Weißt Du, welche beiden wissenschaftlichen Arbeiten wahrscheinlich die meisten Menschenleben gerettet haben? Die meisten würden wohl auf Antibiotika oder Impfungen tippen. Aber auch wenn diese ein enormer Segen waren, gibt es da große Konkurrenz. Das eine ist das Haber-Bosch-Verfahren zur künstlichen Herstellung von Stickstoff, das ursprünglich vor allem zur Sprengstoffentwicklung erfunden wurde, heute aber vor allem die Grundlage von Kunstdünger darstellt. Es gibt Schätzungen, dass heute ein Fünftel bis ein Viertel des gesamten Proteins in der menschlichen Ernährung auf das Haber-Bosch-Verfahren zurückgeht! Damit hängen etwa 1,5 bis 2 Milliarden Menschenleben davon ab! Haber und Bosch erhielten 1918 und 1931 dafür den Chemienobelpreis.
Der andere Kandidat ist Norman Borlaug, der als Vater der „Grünen Revolution“ gilt. Seine Arbeit galt der Steigerung der Erträge von Nutzpflanzen, um den Hunger auf der Welt zu bekämpfen. Ein zentraler Erfolg war die Züchtung von Getreidesorten mit kürzeren Halmen, die mehr Frucht tragen können und seltener umknicken und dadurch geringere Verluste haben. Vielleicht ist Dir schon einmal aufgefallen, dass auf alten Bildern oder Fotos Weizen den Menschen bis über die Köpfe wuchs – heute wächst er nur bis zur Hüfte! Borlaug forschte aber auch an vielen konkreten Verbesserungen wie gezieltem Dünger- und Pestizideinsatz und arbeitete gezielt in Mexiko, Südostasien und Afrika, um den Menschen dort zu helfen, mehr Ertrag zu erzielen, ohne dafür die letzten Naturräume vernichten zu müssen. Borlaug erhielt 1970 den Friedensnobelpreis und wurde als „Der Mann, der eine Milliarde Leben gerettet hat“ bezeichnet, andere Schätzungen gehen davon aus, dass wir durch seine Arbeiten heute zwei Milliarden Menschen mehr ernähren können als vorher. Haber, Bosch und Borlaug haben damit zusammen wohl mehr Leben gerettet, als das gesamte Feld der Medizin!
Warum aber sind diese Namen so vielen Leuten nicht bekannt? Warum ist die Geschichte der Landwirtschaft überhaupt meist nur ein Nebenthema? Zum einen sicher, weil die Arbeit im Feld über lange Zeiten eine Arbeit der ärmeren Schichten war und die Wohlhabenderen eher das Land besessen und verwaltet haben. Noch heute verbinden wir mit dem „Bauern“ ja verschiedene Klischees, die dem Anspruch und der Bedeutung des Berufs überhaupt nicht gerecht werden! Zum anderen spielt sich die Entwicklung der Landwirtschaft über Jahrhundete und Jahrtausende ab und setzt sich viel öfter aus unzähligen kleinen Innovationen zusammen und seltener aus einzelnen großen Durchbrüchen, die sich mit einem Namen verbinden lassen. Also werfen wir doch einmal einen Blick auf diesen langen Weg und auf ein paar der bahnbrechenden Erfindungen und Entdeckungen, die die Geschichte der Menschheit wohl oft mehr geprägt haben, als die meisten Herrscher oder Kriege!
Alles beginnt mit Sammlern und Jägern, die die Natur um sich herum genau kennen mussten, um erfolgreich Nahrung zu finden. Vieles von diesem Wissen wurde wahrscheinlich auch zur Grundlage der ersten Anbauversuche: Zu wissen, wo bestimmte Pflanzen gut wachsen, wann sie keimen und wann Früchte tragen, ist für Sammler genauso wichtig wie für Bauern! Möglicherweise hatten frühe Menschen schon lange vor dem, was wir als Landschaft kennen einen Einfluss auf Verbreitung und Häufigkeit ihrer Nahrungspflanzen. Wie andere Tiere auch dürften sie Samen verbreitet haben – ob als verlorenes Sammelgut, weggeworfene keimende Samen oder Kot. Ob sie damals auch schon basierend auf ihrem Beobachtungswissen versucht haben, gezielt beliebte Pflanzen nahe ihrer Rastplätze oder Wanderrouten anzusiedeln, kann wohl niemand mit Sicherheit sagen. Dass Menschen sehr früh schon ihre Landschaften verändert haben und zum Beispiel durch Brandrodungen offene Flächen geschaffen haben, auf denen sich besser jagen ließ, ist inzwischen bekannt – vielleicht war der Beginn des Pflanzenbaus ganz ähnlich und man hat kleine Lichtungen, Überflutungsflächen oder ähnliches angelegt, um das Wachstum gewünschter Pflanzen zu fördern. Eine ähnliche Art der „Landwirtschaft“ betreiben Biber mit ihrem Dammbau.
Die Ursprünge gezielten Anbaus von Pflanzen und auch der Nutztierhaltung lagen wahrscheinlich in der jüngeren Dryaszeit vor etwa 12.000 Jahren, als das Klima sich abkühlte und bisher wandernde Kulturen sesshafter wurden und auf neue Ernährungsweisen und Vorratshaltung angewiesen wurden. Darauf, dass eine Änderung des Klimas hierfür ausschlaggebend war, weist hin, dass diese „Neolithische Revolution“ fast zeitgleich in Amerika, Asien und dem Nahen Osten stattfand. Mit dem gezielten Anbau von Pflanzen begann auch eine intensivere Veränderung der Landschaft mit Rodungen, um Anbauflächen zu gewinnen und den ersten Pflügen, die den Boden auflockern und unerwünschte Pflanzen bekämpfen konnten. Damals begann auch die gezielte Auswahl von Pflanzen, sowohl von Arten, die sich gut anbauen und nutzen ließen, als auch von Varietäten innerhalb dieser Arten. Zu den ersten sicheren Hinweisen auf den Anbau von Pflanzen zählen Funde von Getriedeähren, die nicht mehr zerfallen – für ein wild wachsendes Gras ein Nachteil, da sich seine Samen schlechter verbreiten, für ein Getreide ein Segen, da es sich viel leichter und auch über einen längeren Zeitraum ernten lässt. Aus einer Wildpflanze war eine Nutzpflanze geworden, die auf den Menschen angewiesen ist, man spricht von der Domestikation, von lateinisch domesticare „häuslich machen, ins Haus holen“.
Wie in der Folge Nutzpflanzen und menschliche Kulturen sich gegenseitig beeinflusst haben, hast Du im letzten Kapitel an Beispielen wie dem Weizen und Reis schon gehört. Mit der Landwirtschaft kam für viele Kulturen die dauerhafte Sesshaftigkeit, es entstanden die ersten Städte, Handel und damit auch Reichtum und Armut. Die Bevölkerung wuchs, wobei sie aber nicht immer auch langlebiger und gesünder wurden – zumindest, wenn man nach den Skelettfunden verschiedener Kulturen geht. Ob diese aber zwischen seßhaften Kulturen und Nomaden wirklich gut vergleichbar sind, sollte man hinterfragen. Dass es zwischen Ackerbauern und Viehzüchtern auch immer wieder zu Konflikten kam, spiegelt sich wohl auch in der biblischen Geschichte von Kain und Abel, wo der Landwirt Kain den Hirten Abel erschlägt, weil Gott dessen Opfergaben bevorzugte. Die gegenseitige Abhängigkeit von Menschen und ihren Nutzpflanzen beschreibt der israelische Historiker Yuval Harari in seinem Bestseller „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ sogar als den größten Betrug der Geschichte, da er die Menschen unfreier gemacht habe und die Pflanzen somit eigentlich den Menschen domestiziert hätten. Das erscheint aber eher als die Sicht eines modernen Freiheitsidealisten, der sich keine Sorgen um seine Ernährung machen muss und passt weder besonders gut zu den klimatischen Anstössen des ersten Ackerbaus, noch zur Geschichte der einzelnen Nutzpflanzen und wird vor allem weder den Pflanzen, noch den Leistungen der ersten Ackerbauenden gerecht!
In den verschiedenen Regionen der Welt entwickelten sich dann verschiedene Formen der Landwirtschaft immer weiter, abhängig von klimatischen Umständen, den genutzten Pflanzen und auch den Moden und Geschmäckern der jeweiligen Kulturen. Neben der Grundversorgung wurden auch immer mehr Pflanzen von Bedeutung, die dem Genuß dienten, wie die Kirsche, Wein oder Kakao, dessen Bohnen bei den Maya sogar Zahlungsmittel waren. Die Pflanzen veränderten sich dabei weiter und auch wenn die Menschen lange auf die Auswahl zufällig entstehender Variationen angewiesen waren, wurden immer wieder ähnliche Züchtungsziele verfolgt: höherer Ertrag, besserer Geschmack und Verträglichkeit und leichterer Anbau.
Aus der Antike kennen wir auch erste Werke, die man den Agrarwissenschaften zurechnen kann, so das etwa 150 v.Chr. entstandene De agri cultura (Über den Ackerbau) des römischen Staatsmanns Cato dem Älteren – ja dem mit ceterum censeo Carthaginem esse delendam. In dem Werk geht es vor allem darum, wie ein Großgrundbesitzer einen profitablen Betrieb führt, aber Angaben zur Auswahl geeigneter Böden, zur Berücksichtigung von Transportwegen und anderem, geben einen Einblick, wie anspruchsvoll erfolgreiche Landwirtschaft seit jeher ist. Aus dem ähnlichen Werk De re rustica (Über die Landwirtschaft) von Marcus Terentius Varro stammt dabei sogar die älteste bekannte Beschreibung der Keimtheorie der Krankheitsentstehung: „Sei achtsam in der Nähe von Sümpfen, […] denn hier leben Tierchen so klein, dass man sie nicht mit dem Auge sehen kann, die mit der Luft über Mund und Nase in den Körper eindringen und schwere Krankheiten hervorrufen können!“ (Advertendum etiam, siqua erunt loca palustria,[...] quod crescunt animalia quaedam minuta, quae non possunt oculi consequi, et per aera intus in corpus per os ac nares perveniunt atque efficiunt difficilis morbos).
Im Laufe der Zeit entwickelten sich immer mehr spezialisierte Anbauformen, von den überfluteten Reisfeldern Asiens, der Optimierung der Fruchfolge in der europäischen Dreifelderwirtschaft bis zu den künstlichen Inseln (Chinampas), mit denen die Azteken in Mexiko Land für den Pflanzenanbau gewannen. In tropischen Regionen war dabei der Etagenanbau weit verbreitet, bei dem in einem weitgehend intakten Wald zahlreiche verschiedene Nutzpflanzen angebaut wurden. Diese Anbauform erlaubt eine langfristige Nutzung eigentlich eher armer Böden und ganzjährige Ernten, von den Europäern der Kolonialzeit wurde sie aber oft nicht verstanden, geschätzt oder überhaupt als effektive Form der Landwirtschaft erkannt, was wohl oft zum Bild kulturell unterlegener „Wilder“ beitrug. In vielen Regionen begann damals der gezielte Anbau von Nutzpflanzen zum Erhalt von Kolonien, zur Ernährung von Sklaven und für den internationalen Handel. Der weltweite Austausch von Pflanzen- und Tierarten, aber auch Kreankheiten, in dieser Zeit wird auch als „Kolumbianischer Austausch“ bezeichnet und prägt unsere Welt bis heute.
Ab dem 18., aber vor allem im 19. und 20. Jahrhundert begann sich die Landwirtschaft immer schneller zu ändern. Der Einsatz von Maschinen führte dazu, dass einzelne Höfe mit weniger Arbeitskräften größere Flächen bearbeiten konnten – und machte dadurch gleichzeitig Arbeiter für die industrielle Revolution verfügbar. 1840 veröffentlichte Justus Liebig das Buch „Die organische Chemie in ihrer Anwendung auf Agricultur und Physiologie“, das als Grundlage für den modernen, gezielten Einsatz von Mineraldüngern gilt. Von der Bedeutung des Haber-Bosch-Verfahrens habe ich ja schon erzählt.
Auch die wissenschaftliche Betrachtung der Pflanzenzüchtung wurde immer bedeutender und es entstanden Werke wie Mendels Versuche über Pflanzen-Hybriden von 1866 und Darwins Die Wirkungen der Kreuz- und Selbst-Befruchtung im Pflanzenreich (The Effects of Cross and Self Fertilisation in the Vegetable Kingdom) von 1876 – beide beschrieben dabei auch schon die Beobachtung, dass fremdbestäubte Pflanzen oft ertragreicher sind, was heute vielfach bei der Hybridzüchtung genutzt wird. Hierzu werden zwei Inzuchtlinien miteinander gekreuzt um ein besonders ertragreiches Hybridsaatgut hervorzubringen,in der Genetik wird diese Generation auch als F1 bezeichnet. Dies hat allerdings auch den Nachteil, dass das Saatgut dieser Pflanzen meist wieder weniger ertragreiche Folgegenerationen hervorbringt und so F1-Saatgut immer wieder nachgekauft werden muss.
Ein immer besseres Wissen über Genetik und Pflanzenphysiologie erlaubten im 20. Jahrhundert auch neue Züchtungstechniken. Bei der Mutationszüchtung werden dabei durch Strahlung oder Chemikalien neue Varianten von Pflanzen in viel höherer Menge erzeugt, als sie rein natürlich auftreten würden, bei der Präzisionszüchtung werden Pfanzen genetisch auf erwünschte Eigenschaften untersucht, so dass geeignete Individuen zur Zucht viel schneller ausgewählt werden können. Das Zusammenspiel von Pflanzenzucht, Düngereinsatz und den durch die chemische Industrie bereitgestellten Pflanzenschutzmitteln erlaubt uns heute Menschen in einer Zahl zu ernähren, die über weite Teile unserer Geschichte unvorstellbar gewesen wären – und das, ohne dafür unsere letzten Naturräume opfern zu müssen. Natürlich kamen mit der modernen Landwirtschaft auch einige neue Probleme: Von Umweltverschmutzung über eine wachsende Ungleichheit zwischen Stadt und Land aber auch zwischen verschiedenen Ländern und Kulturen zu einer zunehmende Monopolstellung von Saatgutherstellern bis hin zur gewinnorientiertem Anbau und Handel von landwirtschaftlichen Produkten, der mit der Ernährung konkurriert. Auch löst das Erreichte natürlich bei weitem nicht alle Herausforderungen, die mit weiterem Bevölkerungswachstum oder gar dem Klimawandel uaf uns zukommen. Vieles davon – und ein paar mögliche Lösungen – nennt übrigens auch Normal Borlaug schon 1970 in seiner absolut lesenswerten Nobelvorlesung – wirklich darauf gehört, haben wohl zu wenige.
Die nächste große Revolution im Pflanzenbau wird sicher – beziehungsweise ist in einigen Bereichen schon die direkte Manipulation pflanzlicher Gene über Grüne Gentechnik und Genomeditierung. Was das ist, was es kann, aber auch welche Probleme uns damit vielleicht erwarten, erfährst Du im nächsten Kapitel.