Sonntag, 15. September 2019

Der Grüne Planet (Teil 1)

Okay, hier ist mein Werk aus diesem Urlaub - relativ heiss gestrickt und jegliches konstruktive Feedback ist hochwillkommen!

So etwas wie ein Vorwort

Hallo, schön, dass Du da bist! Bereit für eine spannende Reise durch die faszinierende Welt der Pflanzen? Denn genau das haben wir hier vor. Aber vorher ein paar kurze Anmerkungen. Vielleicht hast Du Dich schon gewundert, dass ich Dich duze. Vielleicht denkst Du jetzt, Du bist in einem Kinderbuch gelandet. Alle Kinder die hier mitlesen oder dieses Buch vorgelesen bekommen, sind ganz herzlich willkommen, aber das hier wird kein wirkliches Kinderbuch. Aber ich will gerne eines erreichen, das Kinderbücher oft ganz wunderbar hinbekommen: Dich aktiv auf unsere Reise mitnehmen! Natürlich werde ich Dir einiges erzählen, aber vor allem möchte ich meine Faszination für die Welt der Pflanzen mit Dir teilen, Dich anstecken und nicht einfach nur dozieren. Und das „Du“ soll Dich einladen, aktiv mitzumachen und mir nicht einfach nur auf der anderen Seite der Seiten gegenüber zu sitzen: Lies so schnell oder langsam Du willst, schau zum Grün vor dem Fenster, blättere vor und zurück, wenn Dich Themen in einer anderen Reihenfolge interessieren, als ich sie erzähle – am Ende der meisten Kapitel werde ich Dir sogar Tipps dazu geben! Denn in der Biologie hängt alles mit allem zusammen und es gibt viele Wege zu vielen Zielen. Vor allem aber möchte ich Dich anstecken, die Welt um uns und ihre grünen Bewohner mit anderen Augen zu sehen: Ob auf der Fensterbank, beim nächsten Spaziergang oder auf Deinem Teller – denn Wissen entzaubert nicht die Welt, es gibt und noch mehr Perspektiven, sie zu bewundern!
Also, wie gesagt: Schön, dass Du da bist und jetzt lass uns losgehen, es gibt so viel zu entdecken!

Einleitung: Der grüne Planet

Wirklich grün? Du kennst sicher die Bezeichnung „blauer Planet“ für unsere Erde und das trifft es auch ganz gut, wenn man aus dem Weltall mit größerer Entfernung auf unsere Welt schaut. Aber eigentlich ist es keine besonders gute Beschreibung, denn blau sind allein in unserem Sonnensystem noch zwei andere Planeten: Uranus und Neptun. Unser blau ist aber ein anderes, nicht das blau einer dichten methanhaltigen Atmosphäre, sondern das blau von Ozeanen unter einer klaren Lufthülle. Kommt man unserer Erde etwas näher, dann fallen weiße Wolken auf und im blauen Ozean Kontinent, von denen Teile weiß und andere gelblich-bräunlich sind, aber vor allem kommt hier eine Farbe vor, die im Weltall wirklich ungewöhnlich ist und nicht nur große Bereiche unserer Landfläche bedeckt, sondern auch im Meer vorkommt: Eben grün! Und kommen wir noch näher, dann sind fast alle Regionen unserer Welt, die für uns als Menschen lebenswert sind zu großen Teilen grün – zumindest solange wir sie nicht völlig zubetoniert haben. Und doch: Das Grün fällt uns oft gar nicht auf. Pflanzen sind für uns oft einfach der Hintergrund, die Bühne auf der das Leben stattfindet, eher Dekoration als Teil der Geschichte. Das geht so weit, dass viele Menschen sich schwer damit tun, Pflanzen als vollwertige Lebewesen anzusehen – sogar Biostudenten die das bezweifeln habe ich schon getroffen. Und selbst wenn wir Pflanzen wahrnehmen, halten wir sie oft für simpel und langweilig, eben unwichtig – alles geradezu absurd, wenn wir nur ein wenig genauer hinschauen – und dafür sind wir ja hier!
Wir Botaniker haben für dieses Übersehen von Pflanzen sogar einen Begriff: Pflanzenblindheit. Dabei geht es nicht darum, den nicht an Pflanzen Interessierten Ignoranz vorzuwerfen, sondern darum, dass es für uns Menschen tatsächlich schwer ist, Pflanzen so zu sehen, dass wir sie verstehen und ihre spannenden, komplexen und wichtigen Seiten erkennen. Wenn Du im Wald, Garten oder Zoo schon einmal ein Tier beobachtet hast, hast Du vielleicht festgestellt, wie einfach es ist, zu verstehen, was die Meise oder der Löwe gerade tut. Das liegt daran, dass uns das, was Tiere tun vertraut ist, weil wir selbst Tiere sind: Wir atmen, suchen Nahrung, versuchen nicht gefressen oder sonst irgendwie verletzt zu werden, erholen uns zum Beispiel durch Schlafen, arrangieren uns mit unseren Artgenossen und ab und zu suchen wir Partner, um uns fortzupflanzen. Auf den ersten Blick tun Pflanzen nichts davon, sie stehen einfach nur herum und bewegen sich nicht. Erst auf den zweiten Blick erkennen wir, dass Pflanzen tatsächlich alles, was ich oben genannt habe auch tun – und selbst das mit der Unbeweglichkeit ist ein Irrtum, aber dazu später ausführlich mehr. Für diesen zweiten Blick allerdings müssen wir erst einmal verstehen, wie wir hinschauen müssen, wir müssen lernen, Pflanzen als Pflanzen zu sehen und nicht als Tiere und das ist für ein Tier wie uns nicht ganz einfach. Pflanzenblindheit zu überwinden ist also eine echte Herausforderung, aber auf der anderen Seite ist gerade das eine der faszinierenden Seiten von Pflanzen: Sie sind wie wir große, langlebige, mehrzellige Lebewesen mit komplexem Stoffwechsel, spannender Ökologie und vielfältigen Anpassungen, aber da sie die Herausforderungen des Lebens auf so andere Weise angehen, sind sie uns fast so fremd wie Außerirdische – und wer würde nicht gerne Außerirdische erforschen!
Aber es wird noch spannender: Pflanzen sind nämlich keine Außerirdischen, sondern mit uns verwandt – wenn auch sehr weit entfernt - auch damit werden wir uns noch beschäftigen. Unser gemeinsamer Vorfahre war aber noch ein Einzeller und das heißt, dass Pflanzen alles, was für ein mehrzelliges Leben nötig ist, unabhängig von uns entwickeln mussten. Pflanzen bestehen also sozusagen aus den gleichen Bausteinen wie wir, müssen die gleichen Probleme lösen, sind aber oft andere Wege gegangen. Das alles zusammen, gepaart mit unserer jahrtausendelangen Erfahrung, Pflanzen anzubauen und zu züchten, macht sie zu ganz wunderbaren Forschungsobjekten, wenn es um biologische Grundlagen geht – an Pflanzen wurde die moderne Systematik entwickelt, hier wurden Zellen entdeckt, Gene und Viren und viele, viele andere Durchbrüche der modernen Biologie bis zu solchen aktuell heißen Themen wie springenden Genen und Epigenetik! Leider wird auch das oft genug übersehen, es gibt also nicht nur Pflanzenblindheit, sondern auch noch Pflanzenwissenschaftenblindheit – aber auch das können wir lernen zu überwinden. Wir kommen auch auf die Pflanzenforschung später zurück.
Aber vielleicht sagst Du jetzt: „Na gut, Pflanzen sind interessant – aber mich interessieren sie nicht, denn was geht das Grünzeug mich an?“ Oder, frei nach Monty Python: „Was haben Pflanzen jemals für uns getan?“ Okay, halt Dich fest, jetzt geht’s auf eine Achterbahn, die selbst Pflanzenexperten überwältigen kann, denn wir schauen uns mal an, wie Deine Welt ohne Pflanzen aussähe:
Stell Dir einmal vor, Du sitzt an einem kleinen See nahe den Bergen auf einer Bank. Ein paar Bäume spenden Dir Schatten, die Kopfschmerzen von heute morgen sind dank einer Tablette verschwunden, die Sonne scheint und die Vögel singen. Schön, nicht? So – jetzt nehmen wir die Pflanzen weg... Erstmal wird die Landschaft ganz schön karg und ungemütlich. Nicht nur der angenehme Schatten ist weg, Du fühlst Dich gleich weniger entspannt und eher gestresst – denn Pflanzengrün hat auf uns eine beruhigende Wirkung. Deine Kopfschmerzen sind auch wieder da, denn Acetylsalicylsäure basiert – wie viele andere Wirkstoffe – auf einem Stoff aus Pflanzen. Dein Unwohlsein wird gleich noch etwas größer, denn Du bist auch nackt – egal, was Du anhattest: Baumwolle, Latex und Gummi sind Pflanzenmaterialien, zu Wolle als Tierprodukt kommen wir gleich, und Kunstfasern basieren auf Öl, das nichts anderes als verrottetes Pflanzenmaterial ist. Aber es wird noch schlimmer, denn Du bist eigentlich tot – und auch die Vögel und das Schaf von dem die Wolle kam. Denn all Deine Nahrung stammt von Pflanzen – auch dann, wenn diese zuerst an ein Tier verfüttert wurden! Aber selbst eine Diät rettet Dich nicht, denn ohne Pflanzen kein Sauerstoff – Du würdest also ersticken. Und Hautkrebs hättest Du auch, denn ohne Sauerstoff keine Ozonschicht und damit viel mehr schädliche UV-Strahlung. (Wir halten uns hier an eine breite, ökologische Definition von „Pflanze“, später schauen wir uns genauer an, was eigentlich eine Pflanze ist).
Okay, verhungert, erstickt, nackt und Krebs mit Kopfschmerzen klingt schon ziemlich katastrophal, es kommt aber noch dicker, denn jetzt geht es der Welt an den Kragen: Erstmal nehmen wir die Bank weg – Holz als pflanzlichen Werkstoff gibt es ja nicht mehr, aber auch der Eisenrahmen wäre ohne Photosynthese wohl nicht möglich, da sich Eisen wahrscheinlich erst als Erzlager abgelagert hat, als genug Sauerstoff in der Atmosphäre war. Der See ist übrigens auch weg. In Mitteleuropa entsteht etwa die Hälfte des Niederschlags über dem Atlantik und die andere Hälfte auf dem Kontinent – vor allem als Verdunstung über Pflanzen. Ohne Vegetation fließt das Wasser also einfach ab und insgesamt regnet es weniger. Als nächstes ist der Boden dran: Humus ist verrottendes Pflanzenmaterial, aber Pflanzen säuern auch aktiv den Boden an und lösen Mineralien heraus. Ach ja, und der Sauerstoff reagiert auch mit Gesteinen und zusammen mit den veränderten Regenfällen findet die ganze Erosion anders statt, die Landschaft sieht also ganz anders aus. Übrigens sind auch nicht mehr alle Steine da, denn Kalkstein wird aus Ablagerungen von Kalkschalen von Tieren und Mikroorganismen gebildet, aber ohne Sauerstoff und Pflanzennahrung gibt es davon keine oder – wenn es um Mikroorganismen geht - zumindest kaum welche. Selbst die Plattentektonik wäre etwas anders verlaufen, da die Sedimente kaum noch organisches Material enthalten und so andere Eigenschaften gehabt hätten. Bleibt noch die Luft: Ohne Sauerstoff, mit weniger Regen, dafür viel Kohlendioxid würden wir unsere Atmosphäre kaum wiedererkennen. Und es wäre auf Grund des Treibhauseffekts drückend heiß. Wir hätten noch Ozeane und Berge, unsere Erde wäre noch da, wo wir sie erwarten würden, aber wir würden sie kaum wiedererkennen.
Einmal tief durchatmen: Die Pflanzen sind noch da, die Welt ist, wie wir sie kennen. Was haben sie also für uns getan: Die Luft die wir atmen, die Nahrung die wir essen, die Kleidung, die wir tragen, die Materialien mit denen wir bauen – kurz: Die Welt in der wir leben!
Und deshalb ist die Erde der grüne Planet.
Wenn Du mir einfach ins nächste Kapitel folgst, schauen wir uns an, ob Pflanzen sich wirklich nicht bewegen. Wenn Dich gerade besonders interessiert, was Pflanzen so alles für uns tun, sind die Kapitel 10-13 in Teil 3 das richtige für Dich und wenn Dich jetzt vor allem die Frage quält, was genau Pflanzen eigentlich sind, dann schau doch mal in Kapitel 9 vorbei!

Teil 1 – Und sie bewegen sich doch! Warum Pflanzen gar nicht so still halten, wie Du vielleicht denkst...

Kapitel 1 – Wenn Pflanzen tanzen

Wenn Du beschreiben solltest, was Pflanzen ausmacht, was würde Dir als erstes einfallen? Wahrscheinlich entweder dass sie grün sind oder dass sie sich nicht bewegen. Sogar, wenn Du Botaniker sein solltest, wärst Du vielleicht einer der vielen Wissenschaftler, die ihre Veröffentlichung mit einem Satz anfangen, der ungefähr so lautet: „Plants as sessile organisms face many challenges“ (Pflanzen sehen sich als sessile Organismen vielen Herausforderungen entgegen) – wobei fairerweise gesagt werden muss, dass „sessil“ nicht unbeweglich heißt, sondern nur „an einem Ort festsitzend“, also sich nicht fortbewegend. Dass Pflanzen sich nicht bewegen, hat sich sogar in unserer Alltagssprache niedergeschlagen: Wenn ein Gast sich auf Dein Sofa pflanzt, dann ist das jemand, der hereinkommt, sich hinsetzt und dann nichts mehr tut. Und im Englischen heisst „plant“ nicht nur „Pflanze“, sondern steht auch für eine Installation, die fest an einer Stelle steht wie eine Fabrik oder ein Kraftwerk. Okay, immerhin kommt die Pflanze da nicht ganz so passiv und nutzlos weg, wie unser aufs Sofa gepflanzter Gast, aber insgesamt ist gerade das mit dem sich nicht bewegen, oder zumindest nicht fortbewegen doch ein ziemlich wichtiger Grund, warum Leute Pflanzen für eher langweilig halten. Natürlich werden wir uns noch mit ganz vielen anderen spannenden Dingen beschäftigen, aber schauen wir uns das mit dem vermeintlichen nicht-Bewegen doch mal als allererstes an, denn wenn wir genau hinschauen, stimmt das gar nicht – sogar was das Fortbewegen angeht sind manche Pflanzen regelrechte Wanderchampions, nur eben mal wieder ganz anders als wir das als Tier gewöhnt sind.
Aber fangen wir erst mal mit dem Bewegen überhaupt an. Das größte Problem beim Beobachten von Pflanzenbewegungen ist nämlich mal wieder, dass sie es anders machen, als wir es erwarten – in diesem Fall vor allem langsamer. Wir sind darauf geprägt, vor allem relativ schnelle Bewegungen wahrzunehmen, denn das sind ja Dinge, auf die wir auch schnell reagieren müssen – egal, ob es der angreifende Tiger, oder heutzutage ein näher kommendes Auto, das weglaufende Mittagessen oder ein anderer Mensch mit dem wir vielleicht irgendwie interagieren wollen ist. Langsame Dinge können wir in Ruhe anschauen und uns dann entscheiden, was wir damit tun wollen – auf einen Stuhl muss ich eben nur dann schnell mit hinsetzen reagieren, wenn ich Reise nach Jerusalem spiele und jemand anderes sich auch schnell bewegt! Pflanzen laufen aber eben keiner Beute hinterher, sie wehren ihre Feinde anders ab als wir und Reise nach Jerusalem spielen sie auch nicht – schnelle Bewegungen brauchen sie also normalerweise nicht und daher fallen uns ihre Bewegungen eben auch meist nicht auf. Wahrscheinlich kennst Du aber die beiden klassischen Beispiele für Pflanzen, die sich so schnell bewegen, dass wir das doch mitbekommen: Da wäre zum einen die Venus-Fliegenfalle, deren Blätter so schnell zuklappen können, dass sie eben sogar Fliegen fangen können (versuch das mal mit einer zuklappenden Hand!) und zum anderen die Mimose, deren Blättchen und sogar Zweige sich bei Erschütterungen einklappen können, was wahrscheinlich Fressfeinde verwirren soll. Wenn Du besonders aufmerksam beobachtest, ist Dir vielleicht auch schon eine andere Art von Bewegung aufgefallen, die zwar langsamer ist, aber trotzdem ziemlich beeindruckend sein kann: Pflanzen bewegen nämlich ihre Blätter! Viele Arten gehen abends tatsächlich in einem gewissen Sinn schlafen, indem sie die Blätter – die tagsüber zum Licht-einfangen gerade ausgestreckt waren – nachts zusammenfalten oder hängen lassen. Manche Arten machen das auch bei Trockenheit und wahrscheinlich ist das ein Schutzmechanismus, bei dem das Blatt nur dann ausgestreckt wird, wenn die Pflanze genug Licht und Wasser hat, dass es sich auch lohnt. Besonders schön kann man diese „Schlafstellung“ übrigens bei der Mimose sehen oder auch bei dem verwandten Schlafbaum (Albizia julibrissin), der sogar danach benannt ist, aber solche Bewegungen macht auch sowas alltägliches wie unsere Gartenbohne. Neben den grünen Blättern können viele Pflanzen auch ganz spezielle Blätter bewegen, nämlich die, aus denen ihre Blüten bestehen: Die meisten Blüten sind nämlich nur dann offen, wenn auch die Insekten fliegen, die sie bestäuben, und gehen zu anderen Zeiten zu, um sich vor Regen und anderen Gefahren zu schützen. Besonders auffällig ist das bei Zaunwinden, die sich jeden Abend wie eine Tüte zurollen und morgens wieder öffnen, oder auch bei Nachtkerzen, die erst abends aufgehen – wenn nämlich die Nachtschmetterlinge fliegen, die sie bestäuben. Und manche Blüten sind sogar noch raffinierter und bewegen von ihren Staubgefäßen immer nur die, die gerade reif sind in den Weg der ankommenden Insekten!
Manche Pflanzen bewegen aber auch ihre grünen Blätter besonders geschickt und auch hier ist eine bekannte Pflanze sogar danach benannt: Die Sonnenblume. Diese richtet nämlich ihre Blätter tatsächlich nach der Sonne aus – und bewegt sie nachts sogar wieder dahin zurück, wo am Morgen die Sonne aufgeht! Besonders schön kann man das in Zeitrafferaufnahmen sehen, zum Beispiel auf der Webseite http://plantsinmotion.bio.indiana.edu (Da unter „Tropisms>Sunflower solar tracking“ schauen, alle anderen Filme sind aber auch toll!).
Zeitraffer ist übrigens ein gutes Stichwort, denn mit dieser Technik – bei der Filme schneller abgespielt werden, als sie aufgenommen wurden – kann man noch viel mehr Pflanzenbewegungen sichtbar machen. Vielleicht kennst Du das auch schon aus Fernsehdokumentationen, empfehlen kann ich da „Das geheime Leben der Pflanzen (The secret life of plants)“ mit David Attenborough. Was man hier neben den Blattbewegungen beobachten kann, sind vor allem eine Menge Wachstumsbewegungen. Jetzt wirst Du vielleicht sagen „Wachstum? Das ist doch keine richtige Bewegung!“ und da hättest Du bei uns Tieren sogar irgendwie recht. Wir wachsen ja im allgemeinen nach einen ziemlich strikten Bauplan oder – wenn wir zum Beispiel zu viele Chips gegessen haben – eher unkoordiniert in die Breite. Bei Pflanzen ist das allerdings teilweise anders. Natürlich sind auch da viele Muster genetisch festgelegt – daher können wir zum Beispiel Eichen auch an ihrer Blattform erkennen – aber der Körperbau von Pflanzen ist viel flexibler als unserer. Und das gibt ihnen die Möglichkeit, viel aktiver zu Wachsen – sie entscheiden also sozusagen beim Wachsen, wohin sie wachsen – und das erinnert dann doch ganz schön an das, was wir mit unserer Bewegung machen! In den Zeitrafferfilmen sieht man dann auch, wie das funktioniert: Ein wachsender Pflanzenspross, oder auch eine Wurzel, wächst nämlich nicht einfach so geradeaus, sondern abwechselnd auf den verschiedenen Seiten schneller und langsamer, so dass die Spitze langsam herumkreist und es fast aussieht, als würden die Pflanzen tanzen. Man nennt das Circumnutation – was auf Latein ungefähr „Rundherumnicken“ heißt, die Sache also ganz gut beschreibt. Wenn unsere Pflanze jetzt auf irgendeiner Seite bessere Bedingungen vorfindet, dann kann sie ihr Wachstum so verändern, dass sie zu der Seite herüberschwingt und da hin wächst – man könnte also glatt sagen, dass Pflanzen sich beim Wachsen ihren Weg ertasten! So können Sprosse nicht nur zum Licht wachsen und Wurzeln zu Nährstoffen, sondern rankende Pflanzen können auf diese Weise mit weiten Schwingbewegungen sogar eine Stütze zum hochklettern finden – und last but not least: Manche Pflanzen finden so sogar ihre Beute! Beute? Ja, Beute: Es gibt nämlich parasitische Pflanzen, die andere Pflanzen als Unterlage finden müssen. Aber das schauen wir uns später noch genauer an, versprochen!
Übrigens brauchen wir nicht mal unbedingt Zeitrafferaufnahmen, um diese ganzen Pflanzenbewegungen beobachten zu können – wir können es auch mit viel, viel Geduld machen und eine Pflanze vor eine weiße Wand stellen und ihre Position immer wieder markieren. Wer sowas macht? Naja, jemand mit viel Geduld und unglaublich präziser Arbeitsweise, der außerdem noch genial genug ist, sowas zu versuchen und umzusetzen: Charles Darwin. Der hat nämlich 1880 sein Buch „The Power of Movement in Plants“ veröffentlicht, dessen deutscher Titel „Das Bewegungsvermögen der Pflanzen“ leider irgendwie viel weniger beeindruckend klingt. Da Darwin jemand war, der das, was er tut, ordentlich tut, umfasst das Buch 12 Kapitel und beschreibt eigentlich schon fast alles, was ich hier erwähnt habe: Die Circumnutation und wie Pflanzen sich am Licht und der Schwerkraft orientieren, wie Kletterpflanzen ihre Rankhilfe finden und auch die Schlafbewegungen. Insgesamt ist das ein wunderbares Beispiel dafür, wie man mit einfachen, aber gut gemachten Beobachtungen ganz viel über die Welt lernen kann!
Aber kommen wir nochmal kurz darauf zurück, wie sich Pflanzen bewegen. Die Wachstumsbewegungen hatten wir ja schon erwähnt. Hier ist das Prinzip einfach, dass ein Pflanzenorgan auf einer Seite schneller wächst als auf der anderen und sich dann biegt. Das ist allerdings nicht für alle Pflanzenbewegungen die Erklärung. Bewegung durch Wachstum hat nämlich zwei große Nachteile: Zum einen ist es relativ langsam, und zum anderen verändert sich das Organ das wächst ja bei jeder Bewegung! Deshalb nutzen Pflanzen für schnelle Bewegungen wie das Zusammenklappen der Blätter bei Mimosen und Venus-Fliegenfalle noch andere Mechanismen: Bei der Mimose gibt es tatsächlich Gelenke, die so funktionieren, dass in die Zellen einer Seite Wasser gepumpt wird, so dass sie sich ausdehnen und das Gelenk so knicken. Und die Venusfliegenfalle baut ihr Blatt so, dass es unter Spannung steht und blitzschnell von geöffnet zu geschlossen umklappen kann. Solche vorgefertigten Strukturen, die dann ganz schnell ausgelöst werden können gibt es übrigens auch in vielen Früchten, zum Beispiel beim bekannten Springkraut, aber das schauen wir uns im nächsten Kapitel noch genauer an. Bei der Venusfliegenfalle ist die Schnappfalle insofern etwas besonderes, weil sie auch wieder geöffnet werden kann. Und weil die Schnappfalle zwar schnell ist, aber nicht besonders stark, kommt bei ihr noch eine Wachstumsbewegung dazu, die die Falle so richtig kräftig zupresst – ganz schön raffiniert für so eine scheinbar unbewegliche Pflanze, oder?
Okay, Pflanzen bewegen sich also ganz schön viel, wenn wir nur genau hinschauen. Aber was war jetzt mit Fortbewegung? Pflanzen sind doch festgewachsen, oder? Auch Wissenschaftler schreiben ja dauernd, dass sie sessil sind, richtig? Das schauen wir uns im nächsten Kapitel mal genauer an und oben habe ich dazu ja schon was angedeutet...
Wie gesagt, im nächsten Kapitel geht es um Fortbewegung, aber wenn Dich jetzt mehr interessiert, wie Pflanzen auf Dinge in ihrer Umwelt reagieren solltest Du zu Kapitel 4 springen und wenn Du genaueres über Photosynthese wissen willst, geht es zu Kapitel 7!

Kapitel 2 – Das Wandern ist der Pflanzen Lust, das Wa-handern

Auf Costa Rica gibt es eine Palme (Socratea exorrhiza), die auf langen stelzenartigen Wurzeln steht und bei den Einheimischen Wanderpalme genannt wird. Es heißt, dass diese Palmen sich mit Hilfe ihrer Wurzeln mehrere Zentimeter am Tag bewegen können, um zum Beispiel aus dem Schatten von anderen Bäumen heraus zu wandern. Sie wären also so etwas wie ganz langsame Verwandte der Ents aus dem Herrn der Ringe. Auch wenn Dir das erstmal ziemlich absurd vorkommt, so völlig abwegig ist es gar nicht: Wir haben ja schon von beweglichen Pflanzenorganen gehört und eines, das ich noch nicht erwähnt hatte, sind die sogenannten „Zugwurzeln“ - das sind Wurzeln, die sich tatsächlich zusammenziehen können, und so zum Beispiel Zwiebeln ermöglichen, sich tiefer in die Erde zu ziehen. Das ist ziemlich praktisch, wenn eine Pflanze an der Erdoberfläche keimt, den kalten Winter aber mit ihren empfindlichsten Teilen viel lieber in der Erde verbringen möchte! (Okay, bevor das jemand falsch versteht: Die Pflanze möchte gar nichts, aber die Pflanzen, die das konnten, haben besser überlebt und sich durchgesetzt, daher können Zwiebeln heute etwas, das sie möchten würden, wenn sie etwas möchten könnten... Naja, auf das Thema kommen wir wohl auch besser später nochmal zurück) Wie ist das jetzt bei unserer Wanderpalme? Kann die tatsächlich Wurzeln in alle Richtungen ausstrecken und sich dann dahin ziehen, wo es sich besser wachsen lässt? Dazu gibt es tatsächlich wissenschaftliche Arbeiten und die Antwort lautet – Trommelwirbel – Nein! Wahrscheinlich sind die Stelzwurzeln einfach dazu da, die Palme besser im schlammigen Boden zu verankern und mit den Wurzeln besser an Luft zu kommen, als das sonst im Schlick möglich wäre.
Okay, das ist jetzt vielleicht ein bisschen enttäuschend, gerade als Einleitung zu einem Kapitel darüber, wie Pflanzen wandern. Aber die Geschichte zeigt einfach mal wieder sehr schön, wie leicht wir Pflanzen falsch verstehen: Wir sehen Stelzen, denken Beine und erwarten Herumgelaufe. Dabei wandern Pflanzen ganz anders, und wir müssen sozusagen mental nochmal ganz von vorne anfangen. Und wenn wir ganz von vorne anfangen, können wir ja mal mit den ersten Pflanzen anfangen. (Versprochen, wir reden nochmal genauer darüber, was Pflanzen eigentlich sind) Wenn Du sagen solltest, wie Du Dir die allerersten Pflanzen vorstellst, dann wäre Herumwandern sicher keine Eigenschaft, die weit oben auf der Liste steht, immerhin ist Herumstehen doch viel simpler als Herumlaufen und damit sollte es dann ja auch anfangen, oder? Dann solltest Du mal in unseren Biowissenschaften-Grundkurs kommen, da schauen wir nämlich die einzellige Grünalge Chlamydomonas an – von ihren Fans liebevoll „Chlamy“ genannt und nicht näher mit den krankheitserregenden Chlamydien verwandt, die vielen Leuten bei dem Namen sofort einfallen. Und Chlamy bewegt sich. Und nicht nur ein bisschen! Tatsächlich wuseln die kleinen Biester so flott herum, dass man erstmal nur einen huschenden grünen Fleck erkennt. Und die armen Studierenden müssen sich ganz schön abmühen, mal eine Zelle zu finden, die lange genug still hält, um irgendwelche Details zu erkennen. Chlamy schwimmt mit zwei Geißeln, das sind lange Fäden, die wie ein Mittelding aus Ruder und Propeller funktionieren und die kleinen Algen durchs Wasser befördern. Tatsächlich schwimmen viele Algen, nicht nur Einzeller. Vielleicht hast Du schon einmal von Volvox gehört, das sind kugelige Algen aus vielen Zellen, die eher etwas plump durchs Wasser taumeln und in sich kleinere Kugeln tragen, die ihre Nachkommen sind. Und warum schwimmen all diese Algen aktiv herum? Wahrscheinlich aus den gleichen Gründen, aus denen sich Tiere bewegen: Feinden entkommen und vor allem Nahrung finden – das heißt für Algen: zum Licht schwimmen!
Aber natürlich bewegen sich nicht alle Algen. Tatsächlich sind die, die Du mit bloßem Auge sehen kannst und vielleicht vom Strand kennst, eigentlich alle festgewachsen. Und jetzt kommen wir zur eigentlich spannenden Frage: Warum sind Pflanzen eigentlich festgewachsen? Vor allem, wenn ihre Vorfahren doch beweglich waren? Ist festgewachsen sein vielleicht sogar besser als herumschwimmen? Das ist wieder etwas, was uns als Tier ein bisschen schwer fällt, zu begreifen: Immerhin dürften selbst die faulsten Sofasitzer unter uns ganz froh sein, zum Kühlschrank oder zum Klo laufen zu können, auch wenn ihnen die energiesparenden Vorteile von viel Herumsitzen mehr als bewusst sind.
Aber schauen wir uns die Vorteile von Fortbewegungsfähigkeit mal ein bisschen genauer an: Da ist einmal das Nahrung finden – das ist für einzellige Algen offensichtlich ziemlich wichtig. Größere Pflanzen können sich aber so verankern und zum Licht wachsen, dass das weitgehend wegfällt. Auf der anderen Seite wäre das Weglaufen vor Gefahren – ziemlich praktisch, ja, aber wie jeder aus schlechten (oder guten) Actionfilmen weiß: Weglaufen klappt nicht immer und wer gut einstecken oder gar zurückschlagen kann, überlebt auch. Und Pflanzen sind vielleicht die besten Einstecken-Könner der Welt – auch das werden wir uns nochmal genauer anschauen. Dann gibt es noch ein paar andere schöne Sachen, bei denen Fortbewegung helfen kann, sowas wie Partnersuche oder nicht da hin kacken wo man isst – das erste lösen Pflanzen aber anders und das zweite ist bei einem Lebewesen, das seine Nahrung selbst herstellt und daher kaum Abfälle produziert auch kein Problem (Und ja, über beides reden wir noch). Die Vorteile vom Herumwandern sind also für Pflanzen viel geringer als für Tiere, aber nur weil etwas weniger Vorteile hat, muss man es ja noch lange nicht aufgeben. Wie sieht es also mit Nachteilen von Fortbewegung aus? Unsere Sofasitzer haben ja schon festgestellt, dass Bewegung anstrengend ist, also Energie braucht. Aber wir brauchen nicht nur Energie, um uns zu bewegen, wir müssen ja auch erstmal Beine bauen, ein Skelett, das in verschiedenen Körperhaltungen funktioniert, und ein Gehirn, das das alles steuert! Und wenn man sich all das sparen kann, dann kann man die gesparte Energie in was anderes stecken, zum Beispiel Verteidigung, oder Fortpflanzung! Und mehr Energie für Fortpflanzung ist im evolutionären Wettrennen immer ein echter Vorteil. Außerdem kann man seinen Körper viel flexibler gestalten, wenn er nicht herumlaufen muss, also Organe einfach dahin setzen, wo gerade Platz ist – und sogar neue bilden als Vorrat oder Ersatz bei Verletzungen, womit wir wieder beim besseren Einstecken-Können sind: Ein Tier mit einem gebrochenen Bein hat ein Riesenproblem, eine Pflanze mit einem geknickten Zweig ein viel kleineres!
So, vielleicht hast Du im Kopf ein bisschen mitgerechnet und bist immer noch nicht ganz überzeugt davon, dass Festgewachsen sein für Pflanzen tatsächlich praktischer ist, als herumlaufen zu können. Aber einen Trumpf haben wir noch: Wo ich festgewachsen bin, da kommt niemand sonst hin! Klingt gar nicht so beeindruckend? Naja, jetzt denk mal an all die netten Tierdokus im Fernsehen und daran, was für einen Aufwand Tiere betreiben, ihr Revier zu markieren und zu verteidigen. Pflanzen sind ihr Revier! Wer festgewachsen ist und den zum Leben nötigen Raum durchwächst, ist nie gerade woanders, wenn jemand anderes versucht, ins Revier einzudringen. Ein festgewachsenes Lebewesen kann sich sozusagen wie eine Burg an den besten Platz setzen und alle anderen alt aussehen lassen. Und genau das machen übrigens nicht nur Pflanzen, sondern auch viele sessile Tiere wie Schwämme, Korallen oder Seepocken.
Aber Moment! Sagst Du jetzt vielleicht. Denn erstens klappt das ja alles nur, wenn wir an einem guten Platz sitzen und außerdem sollte es in diesem Kapitel doch darum gehen, wie Pflanzen wandern, nicht darum, warum sie es nicht tun! Und Du hast Recht, mit beiden Punkten. Der Knackpunkt ist nämlich der: Festgewachsen sein ist dann von Vorteil, wenn man sich an einer Stelle auf das konzentrieren kann, was man am besten kann – aber man muss erst mal hinkommen. Und das ist etwas, das Pflanzen tatsächlich hervorragend können! Aber fangen wir wieder am Anfang an – diesmal nicht bei Algen, sondern bei den ersten Pflanzen, die wirklich an Land gekrochen sind.
Gekrochen? Ja, gekrochen! Die ersten echten Landpflanzen konnten kriechen – und das geht so: Man wächst mit einem Spross am Boden lang und kommt so langsam voran. Und an jeder guten Stelle streckt man einen Seitenspross nach oben und ein paar Würzelchen nach unten. Das ist zwar langsam – das schnelle Schwimmen mit den Geißeln funktioniert an Land einfach nicht – aber es ist ein ziemlich guter Trick! Man kann so nämlich an einer Stelle keimen – zum Beispiel in einem flachen Tümpel – und dann dahin kriechen, wo man viel Licht und Mineralien im Boden hat und hoch wachsen. Und später wandert man einfach weiter und wächst wieder hoch. Und bald ist man ein kleiner Wald und alle Pflänzchen sind verbunden und können sogar das an Wasser oder Mineralien teilen, was an der einen oder andere Stelle fehlt! Ziemlich praktisch, oder? Das beste aus zwei Welten: Festgewachsen und wandernd. Tatsächlich machen das heute immer noch eine ganze Menge Pflanzen so, zum Beispiel viele Gräser, aber sogar Palmen – nicht die ganz großen, einzeln stehenden, aber ist Dir schon mal aufgefallen, dass kleinere Palmenarten meist in Gruppen wachsen? Das sind echte herumkriechende Bäume – auch wenn jeder einzelne Stamm an seiner Stelle bleibt! Viele Bambusarten können das mit dem Herumkriechen sogar so gut, dass man im Garten sogenannte „Wurzelsperren“ um sie herum im Boden einbaut, damit sie nicht überall hin wandern und den ganzen Garten überwuchern – auch wenn beim Bambus eigentlich ja Sprosse kriechen und keine Wurzeln. Da viele Pflanzen aber auch aus Wuzeln, sogar oft aus kleinen Stückchen, neue Sprosse bilden können, ist der Begriff Wurzelsperre auch nicht verkehrt, den über Wurzeln wandernde Pflanzen hält sie schließlich auch auf.
Neben solchen am oder im Boden kriechenden Sprossen gibt es auch solche, die sich über der Erde bewegen, vielleicht kennst Du das von Erdbeeren oder auch von der Grünlilie im Blumentopf. Hier streckt sich jeweils ein langer Seitenspross zur Seite und bildet dann in einiger Entfernung von der Mutterpflanze neue Blätter und Wurzeln und damit ein vollständiges neues Pflänzchen, das man dann einen Ableger nennt. Das macht es auch etwas schwierig, bei Pflanzen von Individuen zu reden, denn wenn man den verbindenden Spross durchschneidet, wachsen beide Pflanzen weiter, vorher tauschen sie aber Stoffe und Signale aus, sind also irgendwie auch ein Lebewesen. Der Biologe spricht bei solchen genetisch identischen aber einzeln lebensfähigen Einheiten dann von Klonen – wenn das nächste Mal der Bambus des Nachbarn in Deinen Garten hineinwuchert, kannst Du das also guten Gewissens „Angriff der Klonkrieger“ nennen.
Ein Meister dieser Art des pflanzlichen Wanderns ist übrigens ein Baum namens „Pando“, eine amerikanische Zitterpappel (Populus tremuloides), und wächst in Utah in den Vereinigten Staaten. Wobei man Pando auf den ersten Blick wohl eher einen Wald nennen würde, denn er (Und wirklich ein „er“, Zitterpappeln haben ein eindeutiges Geschlecht) hat fast 50.000 Stämme, wächst auf einer Fläche von über 45 Hektar und wiegt 6.000 Tonnen! Soviel dazu, wie man ein Revier erkämpft! Leider scheint Pando, dessen Wurzelsystem wohl 80.000 Jahre alt ist, zu sterben, es wachsen nämlich kaum mehr neue Sprosse – wohl wegen menschlicher Einflüsse, vor allem weil die künstlich hochgehaltene Population von Kühen und Hirschen seine Sprösslinge abweiden. Der Spitzname „trembling giant“ (Der zitternde Riese) ist also ganz passend, denn zur Zeit muss er darum zittern, ob die geplanten Schutzmaßnahmen ihn retten können.
Manche Pflanzen wandern mit Ablegern übrigens auch noch raffinierter, nämlich ganz ohne Verbindung – das bekannteste Beispiel hier sind manche Kalanchoe-Arten, die Du vielleicht als Topfpflanzen kennst. Hier bilden sich an den gezackten Blatträndern viele kleine Tochterpflänzchen, die sogenannten „Kindel“, die dann abfallen und herum rollen, bis sie irgendwo wieder anwachsen. Wenn Du jemals so eine Pflanze auf dem Fensterbrett hattest, weißt Du, wie einfach die Pflänzchen in jeden benachbarten Blumentopf kommen!
Aber all das Herumgekrieche und mit Kindeln um sich werfen macht Pflanzen noch nicht zu wirklichen Wandermeistern – am besten wandern sie nämlich gar nicht wenn sie wachsen, sondern wenn sie nicht wachsen. Wie das funktioniert ist aber ein Thema für ein ganz eigenes Kapitel!
Okay, im nächsten Kapitel geht es also um richtig weites Wandern, aber wenn Dich jetzt die Frage quält, was Pflanzen zu so guten Einsteckern macht und wie sie sich überhaupt verteidigen, dann ist Kapitel 6 für Dich da.

Kapitel 3 – Baby, Du musst hier weg!

Kennst Du das Märchen vom kleinen Häwwelmann? Wenn nicht, dann hier eine ganz kurze Zusammenfassung: Ein kleiner Junge will noch nicht schlafen, baut sich an sein Babybettchen ein Segel und reist damit durch die Welt. Klassischer ist die Geschichte von Moses, der als Baby im Weidenkörbchen den Nil herunterfährt und moderner die von Superman, der als Baby in einer Raumkapsel zur Erde fliegt. Kleine Kinder, die im Schlaf weite, gefährliche Reisen machen, das sind für uns skurrile Geschichten, ein Löwenzahn oder eine Kokospalme würden daran aber gar nichts besonderes sehen, denn genau so machen Pfanzen ihre größten Reisen!
Okay, wir haben uns ja schon angeschaut, wie Pflanzen sich bewegen können. Aber für wirklich weite Reisen ist so ein Pflanzenkörper eben einfach nicht geeignet, also braucht es dafür einen Trick – und der ist ganz einfach, nicht dann zu reisen, wenn man eine große, verwurzelte Pflanze ist, sondern davor – als Baby. Für die allerersten Pflanzen hieß das einfach: Sporen, also einzelne Zellen, produzieren und treiben lassen – als Alge im Wasser, als Moos oder Farn im Wind. Das ist vielleicht nicht die netteste Art, mit seinen Kindern umzugehen, aber sie kommen ganz schön herum und können dann an vielen schönen neuen Orten keimen, vor allem, wenn man sie von einem möglichst hohen Ort loslässt. Tatsächlich sind die ersten richtig großen Pflanzen, die „Sporenbäume“ des Erdaltertums wahrscheinlich gerade deshalb so groß geworden, damit sie ihre Sporen besonders weit verbreiten konnten – andere große Pflanzen, über die man hinauswachsen müsste, gab es ja noch gar nicht. Und natürlich schmeißen gute Eltern ihre Kleinen nicht völlig schutzlos vor die Tür: wer rausgeht, zieht sich etwas ordentliches an. Und bei den Sporen von Landpflanzen ist das ein Mantel aus Sporopollenin. Und Sporopollenin ist ein richtig toughes Zeug: Einzelne fossile Sporen findet man sogar in Gesteinen, die schon einmal geschmolzen waren! Stell Dir den Held in einem Actionfilm vor, der in Lava fällt und... na gut, er stirbt, aber seine Rüstung bleibt ganz! In sowas lässt sich dann doch ganz gut im Wind herumtreiben, bis man mal an einen guten Ort zum Keimen kommt.
Aber wie bei Autositzen und Kinderwagen: Für die Sicherheit von Babys ist nur das beste gut genug und so hat die Evolution später auch etwas noch besseres hervorgebracht: Samen. Bei den Samenpflanzen wird keine einzelne Zelle auf Reisen geschickt, sondern eine ganze, winzig kleine Pflanze – mit einem Würzelchen, ein bisschen Spross und mindestens zwei Blättern. Dieser kleine Pflanzenembryo ruht sich dann erst mal aus, wächst nicht mehr weiter und wartet ab, was kommt. Das ganze wird mit einem Carepaket – einem Nährgewebe das Botaniker „Endosperm“ nennen und gut verpackt in eine Samenschale ausgestattet und es geht auf die Reise. Das erinnert jetzt schon fast an Moses in seinem Weidenkörbchen und so ausgestattet können die kleinen Pflänzchen sogar mit einem richtig guten Start ins Leben rechnen und haben auch an ungünstigeren Stellen eine gute Chance zu keimen. Es geht aber noch besser, und zwar wenn wir zu den Blütenpflanzen kommen, die ihre Samen nicht nur in Blüten bilden, sondern aus diesen Blüten dann später Früchte bilden. Und Früchte, das sind jetzt die Raumkapseln wie bei Baby Superman, die die wirklich spektakulären Reisen möglich machen!
Da gibt es grandiose Flieger. Bei manchen sitzen Flügelchen direkt an den Samen – am spektakulärsten vielleicht bei der Javagurke (Alsomitra macrocarpa) aus dem südostasiatischen Regenwald, deren Samen richtige Tragflächen mit bis zu 14 cm Spannweite haben und damit über weite Strecken segeln können. Andere Pflanzen bauen mit ihren Früchten noch bessere Fluggeräte für ihre Samen: Du kennst sicher die Flügel an Ahornsamen oder auch die Fallschirme vom Löwenzahn, der bekannten Pusteblume. Manche so ausgestattete Samen können sich über viele Kilometer bewegen!
Aber es geht nicht nur mit dem Wind. Kokosnüsse schwimmen auf dem Wasser und können so ganze Meere überqueren und geben ihren Babys sogar das Süßwasser mitgibt, um an einem Sandstrand zu keimen! Raffiniert ist auch die Lotusblume, deren Blütenmitte wie ein Duschkopf aussieht und später abfällt, um wie ein Boot mit den Öffnungen nach unten herumzutreiben, wobei die Samen dann herausfallen, wenn ihr Boot wackelt – der Lotus sät seine Samen also selbst entlang von Gewässern aus! Manche Pflanzen nutzen auch Wind und Wasser wie die Taubenkropfnelke, deren Kelch eine Art Ballon um die Blüte herum bildet, der dann mit Wind und Wasser herumrollen und -schwimmen kann, wobei die Samen herauspurzeln. Mit der ganzen Pflanze machen das übrigens die aus Westernfilmen bekannten „Steppenroller“, bei denen sich ein ganzer Strauch zusammenrollt und, seine Samen verteilend, durch die Gegend rollt – mit dem kleinen Schönheitsfehler, dass es solche Steppenroller im Nordamerika des Wilden Westens gar nicht gibt...
Wer seine Samen aber nicht Wind und Wasser anvertrauen will, kann auch Babysitter anstellen. Okay, eher Tiere als eine Art Postboten. Dazu baut man an seine Samen oder darum herum eine leckere Frucht und lässt Tiere die Kerne und Samen entweder ausspucken oder später mit dem Kot verteilen. Deshalb machen sich übrigens Spatzen über Pferdeäpfel her – da sind noch eine ganze Menge Samen drin! Und wenn Dich Deine Eltern früher davor gewarnt haben, dass die prächtigen roten Beeren an manchen Büschen so gar nichts für Dich sind weil sie Bauchschmerzen machen, dann ist das oft der Fall, weil diese Früchte nicht von Säugetieren wie uns, sondern von Vögeln verbreitet werden – die kommen schließlich mit am weitesten herum. Über Tiere verbreiten sich auch die Samen von fast allen Pflanzen, die wir als Obst kennen – Äpfel, Beeren, Mangos und so weiter – auch wenn eine Nutzpflanze zu werden und Menschen den Job machen lassen natürlich eine relativ moderne Entwicklung ist.
Die spektakulärsten Samenverbreiter sind aber vielleicht die Pflanzen, die sich weder auf Wind und Wasser, noch auf Tiere verlassen, sondern selbst dafür sorgen, dass Ihre Samen herumkommen. Das geht eher unspektakulär, wenn man wie die Erdnuss seine Früchte einfach per wachsensdem Spross in die Erde schiebt (Ja, genau deshalb heisst die „Erdnuss“!). Schon spassiger ist es zum Beispiel beim Storchschnabel, der in der Blütenmitte einen langen Schnabel bildet, in dem Fasern verlaufen, die unter Spannung stehen und irgendwann die Samen am Boden der Blüte herausreißen und wie ein Katapult wegschleudern. Dann gibt es Pflanzen, die so viel Spannung und Druck aufbauen, dass es ihre Früchte regelrecht zerreißt und die Samen herumschleudert – Du kennst sicher Springkraut, aber wenn Du die Chance hast, Dir einmal eine Exkplodiergurke anzuschauen, dann wirst Du sehen, was da noch möglich ist, die schleudert ihre Samen meterweit und spritzt umstehende Personen nass, obwohl ihre Früchte nur etwa so groß wie ein Daumenglied sind. Und dann gibt es da auch noch die Spritzgurke. Deren Frucht sieht aus wie eine kleine Gewürzgurke und hngt an einem Stiel, steht aber so unter Druck, dass sie sich irgendwann losreißt und nach vorne schießt, wobei hinten die Samen bis zu 12 Meter weit herausspritzen – wieso das Ding nicht in irgendeiner Kultur als Fruchtbarkeitssymbol gilt, verstehe ich bis heute nicht!
Pflanzen können also tatsächlich wandern, aber sie machen es nicht wie Tiere, sondern sie haben ihr Leben in eine wandernde Phase, in der sie sonst nicht viel tun und eine sonst aktive aber fest verwurzelte Phase geteilt – und das ist offensichtlich eine erfolgreiche Lebensweise. Beim Wandern haben Pflanzen gegenüber Tieren sogar einen großen Vorteil: Sie müssen nur irgendwo ankommen, die Nahrung produzieren sie dort dann selbst. Über lange Zeiträume wandern Pflanzen daher auch schneller und die Tierarten kommen ihnen hinterher. Nach den Eiszeiten sind verschiedene Bäume so, langsam aber unaufhaltsam, 100 bis 500 Meter pro Jahr wieder nach Europa eingewandert.
Samen sind aber nicht nur gut darin, durch den Raum zu wandern, da sie so haltbar sind, erlauben sie Pflanzen sogar eine Wanderung durch die Zeit, die kaum anderen Lebewesen offen steht. Samen können Kälte und Trockenheit überdauern und oft sogar Brände. Und da bei vielen Pflanzen nicht alle Samen in einem Jahr keimen, ruhen im Boden immer viele Pflanzenembryos, die auf bessere Zeiten warten. Deshalb können im Wald viele Kräuter schnell eine Lichtung besiedeln, wenn ein Baum umfällt, Wälder nach Bränden nachwachsen und Unkräuter im Garten immer wieder hochkommen. Insgesamt macht die sogenannte „Samenbank“ im Boden Pflanzen sogar so gut dazu in der Lage, Katastrophen zu überdauern, dass es in der Paläobotanik, also der Geschichte der Pflanzen über die Erdzeitalter, fast keine Massenaussterben gibt, wie sie Tiere immer wieder erwischt haben. Wenn ein Meteorit einschlägt und die Erdoberfläche verwüstet? Naja, dann keimen wir halt in ein, zwei Jahren und hey, die doofen Viecher, die uns immer abkauen sind alle tot, prima!
Pflanzen sind also gar nicht so unbeweglich – wenn man genau hinschaut, sind sie tanzende, kriechende Wesen, die als Babys abenteuerliche Welt- und Zeitreisen unternehmen! Und doch fehlt uns noch eine Art, wie Pflanzen wandern: Wie sie zusammenkommen! Aber das führt uns schon zum nächsten Teil unserer Reise.
Wenn Du wissen willst, wie eine Pflanze zur anderen kommt, lies einfach weiter. Wenn Dich brennend interessiert, wie Samen entscheiden, ob sie keimen oder nicht ist Kapitel 5 das richtige für Dich. Und wenn Du mehr darüber wissen willst, was Pflanzen so tough macht, schau doch mal in kapitel 6 vorbei!




Teil 2 – Wie lebt es sich eigentlich so als Grünzeug?

Kapitel 4 – Von Blümchen und Bienchen... und rüpeligen Käfern und babymordenden Pflanzen

Kapitel 5 – Entscheidungen, Entscheidungen, Entscheidungen

Kapitel 6 – Kung Fu Blümchenstil – Wie Du Kämpfe gewinnst und alle Dich immernoch friedlich nennen

Kapitel 7 – Photosynthese kann man schlecht erklären

Kapitel 8 – Bewusstsein wird überbewertet!

Kapitel 9 – Und was genau sind jetzt eigentlich Pflanzen?

Teil 3 – Die Pflanze und Du

Kapitel 10 – Zehn Pflanzen, die die Welt ernähren

Kapitel 11 – Von Genen, Glyphosat und Bioindustrie – eine kleine Geschichte der Landwirtschaft

Kapitel 12 – Von Heilern, High-Machern und Killern

Kapitel 13 – Kann Botanik die Welt erklären und sogar retten?