Sonntag, 9. Dezember 2018

Unser fantastischer, viel zu wenig beachteter Tentakel

Okay, was für ein Körperteil packt man in billiger Science-Fiction an einen Außerirdischen, wenn man ihn so richtig exotisch wirken lassen will? Richtig, einen oder mehrere Tanetakel! Lange, fleischige bewegliche Dinger ohne Knochen, die greifen und Tasten können und uns als Menschen so ganz ungewohnt erscheinen. Tentakel, da fallen uns Kraken, Quallen und bei zoologischer Vorbildung vielleicht noch die Mundtentakel von Schnecken ein, aber - wenn wir wirklich bei der Definition "länglicher, beweglicher Körperteil ohne Skelett" bleiben - dann gibt es viel mehr Tentakel und das sogar bei Wirbeltieren. Da wären zum einen die Tentakel an den Köpfen mancher Fische und bei Sägetieren finden wir am Elefanten nicht nur einen Rüssel, sondern auch noch einen erstaunlich beweglichen Penis. Damit können wir als Menschen natürlich nicht mithalten. Unsere Nase ist so richtig unbeweglich und unser männliches Geschlechtsorgan können wir zwar mit Blut aufpumpen und mit der Beckenmuskulatur ein wenig wippen lassen, aber damit hat's sich auch schon. Also keine Chance an der Tentakelfront? Weit gefehlt, denn wir haben da noch was zu bieten - ein fleischiges, hoch bewegliches, enorm sensitives Körperteil, dem wir viel zu wenig Aufmerksamkeit dafür geben, wie faszinierend es eigentlich ist. Also: Mund auf und hallo Zunge!
Wenn man Menschen nach der Zunge fragt, dann fällt den meisten erstmal ein, dass man sie herausstrecken kann und damit lecken, was beides in unserer Kultur eher negativ belegt ist oder sogar als eklig gilt.  Dann fällt manchen noch ein, dass man mit der Zunge schmecken kann und vielleicht, dass sie zum Sprechen wichtig ist, aber damit hat es sich meist - insgesamt also eher ein ganz nützliches, aber langweiliges Organ über das man lieber gar nicht viel redet? Okay, schauen wir mal ein klein bischen genauer hin und fangen mal damit an, was dieses Ding eigentlich so kann. Und dazu hätte ich erstmal eine kleine Übung: Probiert doch mal aus, wo im Mund ihr mit der Zungenspitze überall hinkommt...
Erstaunlich, oder? Ich kann mit meiner Zungenspitze alle Zähne bis zu den hintersten Backenzähnen auf den Kauflächen, sowie innen und außen abfahren und bis auf ganz hinten im Gaumen und unter der Zunge sind es fast überall die Wangen, die meine Zunge aufhalten, nicht ihre Beweglichkeit. Und das Tempo mit dem sie sich bewegen kann, kann sich problemlos mit Zehn-Fingertippen vergleichen! Außerdem kann sie natürlich ein ganzes Stück aus dem Mund herauskommen und hier den kompletten Lippenbereich berühren. Und sie kann sich verformen - bei mir als Zungenrollen bis zu einer kompletten Röhre zusammenrollen, aber eine Rinne formen kann sie bei jedem, vorne oder hinten oder mit ganzer Länge gegen den Gaumen reiben? Kein Problem! Sich im Mund um 90° drehen, so dass die Oberseite der Spitze zur Wange zeigt? Klappt auch! Und mit Beweglichkeit ist das Ding noch lange nicht am Ende seiner Fertigkeiten angekommen! Die Znge ist geradezu unglaublich tastempfindlich! Habt Ihr jemals nach dem Essen etwas zwischen den Zähnen gespürt und festgestellt, wie schwer es ist, das mit den Fingern wiederzufinden? Oder gemerkt, dass die Zähne sich rau anfühlen und mal mit dem Finger darüber gefahren, um nichts zu merken? Fingerspitzengefühl ist nichts gegen das was unser Mundtentakel kann! Und um einiges kräftiger als wir ihm zutrauen ist das Ding auch - versucht mal, welches Backwerk sich zwischen Zunge und Gaumen zerdrücken lässt - die Grenze liegt meist beim Schmerzempfinden das entsteht, nicht bei mangelnder Kraft. Und wer sich einmal ansieht, wie die Muskulatur aussieht, die unsere Zunge bewegt, wundert sich nicht mehr, was sie alles kann.
Und es lohnt sich, dem Ding mal bei der Arbeit zuzuschauen! Okay, es lohnt sich, bewusst darauf zu achten, was die Zunge so tut, denn sie tut das ja meist im Verborgenen, aber wenn man beim Essen darauf achtet, ist es doch ganz erstaunlich. Die Zunge greift zusammen mit den Lippen nach der Nahrung - oft erst, wenn die Nahrung im Mund ist, wo die Zunge von unten dagegen drückt, sich leicht heranrollt und den Hppen tiefer in den Mund zieht. Aber wenn wir etwas präzieser greifen wollen, wagt sie sich weiter hervor und nutzt ihre Beweglichkeit und die Haftung durch den Speichel zu ganz erstaunlichen Leistungen! Nicht nur können wir präziese kleinste Nahrungstropfen auflecken, auch kann die Zunge mit etwas Hilfe der Lippen einzelne Salatblätter oder Gurkenscheibchen aus einem Burger picken oder Spaghetti greifen - alles so schnell und geschickt, dass uns meist gar nicht auffällt, dass sie daran überhaupt beteiligt war. Ist das Essen im Mund, rollt sie sich darum, presst es zusammen, zerbricht Kekse mit Hilfe des Gaumens, portiniert die Masse und verteilt sie dann in die Wangen, wo die Zähne alles weiter zerkleinern. Bei jedem Kauen bewegt sie sich mit, portioniert, verteilt unzerkautes zwischen die Zähne und Brei in die Mitte des Munds und sortiert dabei oft genug noch Orangenkerne aus - alles während die Kiefer mit Kraft mahlen. Und fast immer ohne Unfälle! Und das ist nur die Alltagsarbeit - mit ein wenig Übung kann sie eine Olive so zwischen den Schneidezähnen drehen, dass das Fruchtfleich besser vom Kern getrennt wird als es möglich wäre, wenn wir die Frucht mit den Fingern halten und abnagen! Nach dem Kauen fährt sie die Kauflächen und die Innenseite der Wangen ab, reinigt den Mundraum und hilft beim Schlucken. Und all das tut sie auch zwischen den Mahlzeiten immer wieder, so ständig aktiv, dass es nur auffällt, wenn wir bewusstlos werden und eine erschlaffte Zunge die Atemwege versperren kann!
Unsere Zunge ist also ein ganz faszinierendes Mundwerkzeug, das uns hilft Nahrung aufzunehmen, zu zerkleinern, zu Schlucken und danach noch den mund reinigt. Und die grandiose Beweglichkeit, die sie hierfür braucht, macht sie erst zu dem Werkzeug, dass noch in anderen Bereichen brilliert. Da sie den Mundraum im Inneren beherrscht, kann sie den Schallraum beim Sprechen blitzschnell in so vielfältiger Weise verändern, dass sie all die unzähligen Nuancen beisteuert, die Sprache und Gesang erst so komplex machen. Und ein so tastfreudiges, kräftiges und geschicktes Organ kann natürlich auch sozial eine große Rolle spielen. Wir können einen Partner damit zärtlich berühren - im Mundraum heisst das Küssen, wenn wir erogene Zonen oder Genitalien berühren benutzen wir leider meist wenig positiv besetzte Begriffe wie Lecken oder Blasen und verachten dabei das enorme Geschick, das eine Zunge einbringen kann, von kitzelnd über reibend und massierend  - das einzige das die Tentakel aus manchen Sexphantasien der Zunge voraus haben ist die mögliche Eindringtiefe und selbst die meisten Männer sollten inzwischen wissen, dass es darauf nicht unbedingt ankommt...
Natürlich gibt es im Tierreich auch Zungen, die auf den ersten Blick noch spektakulärer wirken - etwa die Katapultzungen von Fröschen und Chamäleons, die auf Distant Beute fangen können, die lange Harpune mit der Spechte Maden aufspießen, die gefiederten Zungen Nektarleckender Tiere oder die raue Katzenzunge, die ebenso geschickt Wasser aufleckt wie sie Knochen und Fell säubert, ohne dass etwas an ihr hängen bleibt und die dabei noch äußerst effektiv Speichel verteilt. Aber gerade die Vielfalt von dem, was unsere Zunge kann, macht sie zu dem faszinierenden Organ, das sie ist. Also: Macht Euch mal den Spass, aufmerksam darauf zu achten, was Eure Zunge so macht und staunt über den stillen Jongleur in Eurem Mund!

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